Ich drücke mir die Nase platt. Ich drücke mir die Nase platt auf dem Asphalt. Ich liege hier auf dem Asphalt, dabei bin ich gar kein Asphaltschmuser, kein Bordsteinküsser. Dort drüben liegt auch einer, er sieht mich nicht, sein Kopf ist weggedreht. Ich kann kaum mit einem Auge sehn, das andere liegt direkt am Boden, wohl genau auf einem Asphaltsteinchen, das am Auge steckt, es drückt dort sehr.
Es ist garnicht schlimm, dass ich hier liege, einfach mal nur rumliegen, das macht man viel zu selten, ohne über etwas nachzudenken, an nichts denken, nichts tun, ganz entspannt, einfach nur liegen. Der Boden ist nicht hart, ich spüre ihn kaum, schönstes Wetter, die Sonne scheint, der Boden ist nicht kalt. Ganz entspannt. Warum ich hier liege, weiß ich nicht, einfach mal so, nur mal so rumliegen, da drüben liegt ja noch einer.
Als ich das letzte Mal so lag, hatte ich nach Autos gelauscht. Mit einem Ohr auf der Straße, so wie man es eigentlich bei Schienen macht. Um zu hören, ob ein Zug in Anmarsch ist. Nur gab es hier keine Gleise. Und ich hätte mein Ohr auch nicht auf Schienen gelegt. So blöd war ich nicht. Es reicht, wenn man die Hand drauf hält, Züge sind schneller als man denkt.
Hannes, Nicole und Yvonne, wir waren auf dem Weg zu unserem Teich, und irgendwer hatte die Idee, auszutesten, ob man auf Asphaltstraßen die Fahrzeuge hört, wenn man das Ohr an den Boden drückt. Es war so still an diesem Tag, sicherlich ein Sonntag, damals war es an den Sonntagen immer ganz still. Als würde sich an diesem Tag rein garnichts bewegen. Wir drückten alle unsere Köpfe auf die Straße, ein Ohr an den Asphalt gequetscht, hockten da, schief und verrenkt. Der Asphalt war damals schon schön warm. Ich hörte nichts. Und lauschte, und atmete ganz flach, die anderen wohl auch, aber es tat sich nichts, da würde nichts angefahren kommen. Rein garnichts war zu hören. Nichts. Meine Wange war verklebt von winzigen Asphaltsteinchen, genauso wie mein Ohr. Bald gaben auch die anderen auf, und rubbelten sich die Steinchen vom Gesicht. Nur Yvonne hockte noch, die Haare weit ausgebreitet, wie Wellen in der Sonne, wollte lauschen bis etwas kommt. Flach atmend und bewegungsstarr. Wir anderen bettelten, aber sie blieb stur. Wir seufzten und liefen über den asphaltierten Platz, auf dem wir im Sportunterricht Weitwurf übten, erst als wir schon in unseren Geheimgang schlüpften, kam sie hinterhergerannt. Wir folgten unserem Trampelpfad, dem Pfad durch das Gebüsch. In dem war es immer still, nicht nur sonntags. Ein grünes Dickicht rundherum, aber aufrecht gehen konnte man darin, es war unsere geheime Abkürzung zu unserem Lieblingsplatz, dem Teich.
Ronny war auch mit dabei. Warum er dabei war, weiß ich nicht, weiß ich bis heute nicht. Nicole brachte ihn öfters mit. Es war sicherlich eine Nachbarschaftspflicht oder eine Verwandtschaft um drei Ecken. Ronny war nicht der schlauste. Und auch ein wenig aggressiv. Ich würd fast sagen, ein Idiot. Er benahm sich zwar, aber mit Überlegungswillen war es schnell vorbei. Es schien als wären wir nicht so ausgelassen, wenn er dabei war, als wären wir angespannt. Wir redeten weniger als sonst, vielleicht, weil wir nicht wollten, dass er viel mit uns redet. Wir vermieden es womöglich, ihn selber reden zu hören.
Einmal sind wir in einen der Gärten gestiegen, die rundum den kleinen See lagen. Es war nur ein niedriger Maschendrahtzaun drumrum, also leicht zu überwinden. Wieso wir das taten, weiß ich nicht. Ich fand’s auch nicht ganz in Ordnung, einfach in fremde Gärten zu steigen, aber irgendwer hatte sich in den Kopf gesetzt, etwas Essbares aus den Beeten zu klauben. Und weil wir zwar über den Zaun stiegen, uns aber nicht recht trauten, Angst davor hatten, erwischt zu werden, rupfte einer von uns wahllos aus dem Boden, was die letzte Reihe der Beete hergab. Knollensellerie, ein oder wohl doch eher zwei, das fürchterlichste was man erwischen kann. Sind ohne viel Aufruhr wieder über den Drahtzaun geschlüpft, nur zwei Löcher starrten hinterher aus dem Boden. Der Besitzer hat sich vor Verwunderung sicherlich am Kopf gekratzt. Knollensellerie, vorzüglich. Was man stiehlt, wird auch gegessen, mit stumpfen Obstmessern schälten wir die Knollen auf einem Stein, jeder bekam ein Stück davon. Das Fleisch war roh merkwürdig mürbe, fast weich, ganz anders als seine verwurzelte Schale es vermuten ließ. Als wir am Ufer hockten und am Sellerie kauten, trieb ein toter Fisch im Schilf. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Er sah ganz heil aus, kein großer Fisch, mit glubschigem Auge bewegte er sich auf den Wellen. Mit einem Zweig stubste Ronny den Fisch immer wieder an. Das musste nicht sein. Ich fand das eklig. Der Ronny, vielleicht ist er in unsere Klasse gegangen, ich weiß es nicht genau, schon möglich, dass er die Schule gewechselt hat, später war er auf jeden Fall nicht mehr dabei. Zumindest das weiß ich noch.
Hinter mir höre ich Stimmen, ich seh sie nicht, aber Leute stehen hinter mir. Ich sehe ihre Schatten vor der Sonne. Einer beugt sich zu mir runter, nur ganz kurz, wir machen das schon, sagt er, ist gut, denk ich, ist gut, ist ganz ja entspannt. Er steht jetzt wieder hinter mir, auch eine Frauenstimme ist zu hören, ganz ruhig sprechen sie, sind so entspannt wie ich. Ein leises Rollen, ein Klappern höre ich, ein Gestell auf Rädern schiebt sich neben mich, eine Trage neben mir, die lassen zu mir herunter ich brauch mich nur noch draufzurollen. Ich soll wohl nicht mehr hier so rumliegen, aber es ist ganz angenehm hier, ich könnt hier noch eine Weile liegen, sie haben ja recht. Das Liegen hat mich ganz träge gemacht, ich mag mich garnicht auf die Trage legen, vielleicht machen die es ja für mich, dann können sie auch gleich das Asphaltsteinchen von meinem Auge nehmen, das da so drückt. Die Jungs machen das schon. Die Jungs dort hinten vor der Sonne. Sie hieven mich auf die Trage, es geht ganz einfach, ich spüre sie garnicht, die Trage ist weich wie Watte, wie eben noch der Boden, ich bin halt hart im Nehmen. Aber sie drehen mich nicht um. Vielleicht wegen der Gefahr des verklemmten Halswirbels, der Rücken, das Rückenmark und so, das kann übel enden. Sie gehen wohl auf Nummer sicher, sie könnens ja nicht wissen, ich lieg hier doch nur rum, ist nicht schlimm. Auch keine Seitenlage, obwohl, die macht man ja nur bei Bewusstlosen, wegen dem Zungenverschlucken und dem Atmen oder dem Kotzen. Ich bin ja nicht bewusstlos, und kotzen muss ich auch nicht, ich lieg immer noch so wie vorher, ist nicht schlimm. Nur das Steinchen drückt.
Ich sehe an die Decke des Krankenwagens. Habe ich garnicht bemerkt, ist nicht lang her, wir fahren noch. Ich liege jetzt auf dem Rücken, sie haben mich umgedreht, aber das Asphaltsteinchen haben sie mir nicht vom Auge weggemacht, vielleicht gilt das schon als operativer Eingriff. Der Fahrer rast wie ein Kaputter. Alles wackelt, nur ich liege ganz ruhig. Bei mir ist alles ruhig. Neben mir sitzt die Sanitäterin, ich seh sie nicht, ich spüre sie nur. Meinen Kopf kann ich nicht drehen, sie haben mir wohl eine Halskrause verpasst. Ich schließe die Augen. Die Sirene heult. Tatütata, tatü.
Weißt du noch, Hannes, wir sind immer auf den Baum am See, an unserem kleinen Teich. Der war nicht hoch, aber du hast dich nie bis in die Krone getraut, hast gemeint, weiter unten ist der Ausblick schon ganz gut. Vielleicht wolltest du auch nur in der Nähe von Yvonne bleiben, die saß gern unten angelehnt am Baum. Selbst die Nicole stieg höher als du, obwohl sie kein Sportass war, eher burschikos gebaut, vielleicht grad deshalb, machte es ihr nichts aus, den Baum ohne Zögern zu erklimmen. Sie kroch oft sogar höher als ich, auf den Ast, auf den höchsten Ast, der einen noch hielt. Das war der Königsast, so hoch war der, wenn man auf dem saß, konnte man den Teich vollständig übersehen. Über die Gärten und bis dorthin, wo unsere Geheimgang war. Manchmal blieb Nicole auf einem der mittleren Äste hocken, obwohl ich nach ihr hochgestiegen bin, wohl damit ich auch mal dort ganz hinauf kam. Dort oben war es eine andere Welt. Wie weit entfernt, und still.
Wenn ich heute seh, wobei Kinder ihren Spaß finden können. Da bin ich froh, dass ich auf Bäume klettern konnte, auf Bäume klettern durfte. Wenn Kinder heut auf Bäume kletterten, würden sie am Schlafittchen gepackt, noch bevor sie einen Fuß an die Baumrinde gesetzt hätten. Da bliebe ihnen nichts anderes als Pokémon Go oder Super Mario Run. Würden es nicht ständig die Eltern spielen. Die Kinder dürfen sie dabei begleiten, mitten in der betonierten Stadt, neben den Campingstühlen und dem Grill. Das Meer ist hier zu riechen, aber irgendwie noch immer zu weit weg. Eltern können echt vieles vermiesen. Pokémon und Mario nicht mit den Erwachsenen. Da verlieren die Kinder die Lust. Vielleicht wissen die Eltern was sie tun, vielleicht ist es Strategie, präventive Erziehungsmaßnahme. Die Kinder trollen sich, machen das Beste daraus, sie hüpfen auf den Wiesen, oder gar im Springbrunnen, planschen und vertreiben sich die graue Langeweile. Keine Lust auf Pokémon, keine Lust auf Mario. Auf Bäume klettern, das wär schon was. Mit Strategie die Kinder zu erziehen, ist im Grunde garnicht mal verkehrt. So etwas wie Techno, Schlager, Reggae hörn, am besten alles zusammen, Drogen nehmen, sich nicht waschen, in der Hoffnung, die Kinder machen das Gegenteil. Das wär schon was, sobald ich seh, dass meine Kinder sich abgrenzen wollen, werde ich ihnen die üblen Sachen vorleben. Das könnte ich mir überlegen. Das könnte ich mir vornehmen. Bis dahin ist noch Zeit. Bis dahin passiert noch viel.
Das mit dem Jan hab ich gehört. Über ein paar Ecken, nur zufällig. Unsere Freundschaften haben sich im Sand verlaufen, waren mit der Zeit nicht mehr so vertraut. So kommt es, wenn alle in die Großstadt ziehen, sich verstreuen in alle Richtungen. Wenn man davon hört, wie soll man reagieren? Früher hätten wir es gewusst. Da waren wir da, da waren wir noch beieinander, da waren wir der Rückhalt. Aber wenn es so kommt wie es gekommen ist, wenn die Arbeit, das Studium, die Erwartungen an das Leben, viele von uns in andere Städte gezogen hat? Wie soll man dann darauf reagieren? Wie einander beistehen? Die Freundschaften verblassen. Das Erwachsenenleben zählt. Wenn man davon hört, was dem Jan passiert ist, das muss man erst einmal verdauen. Hat er es selbst erst ein Jahr nachdem es passiert ist, anderen erzählt, hab ich gehört, selbst seinen Eltern sagte er nichts, sie kannten seine Freundin nicht.
Er war schon in der Schule ein Ruhiger. Ein Ruhiger, aber kein Streber, auch schon richtig klug, ohne viel zu lernen. Bei unseren Teicherkundungen war er nicht mit dabei, er wohnte am anderen Ende der Stadt. Wir trafen uns dafür ab und an in seinem Klubkeller, der bei uns im Viertel in der Nähe war. Der gehörte ihm nicht selbst, sondern seiner Tante, und Klubkeller ist auch etwas übertrieben, es war lediglich ein wohnlich eingerichteter Keller im Hochhausblock neben dem kargen Spielplatz, mit Bartheke und rundem Tisch. Bis achtzehn Uhr durften wir dort immer bleiben, wenn er den Schlüssel dafür bekam. Rauchen und Trinken verboten, ein paar Male trauten wir uns doch paar Bierchen mitzunehmen, versuchten uns beim Strippoker, nur zierten sich die meisten dann am Ende doch. Ein Klubkeller war schon etwas zum Angeben, nicht jeder durfte "rein". Aber irgendwann verlor auch er seinen Reiz.
Nicht zu wissen wohin deine Freundin verschwunden ist. Und drei Tage später findet man sie neben einer Landstraße im Graben liegen. Ein Unfall war es, keiner weiß, was sie dort machte, wie sie dorthin gelangte, keiner, der dir Antworten geben kann. Du weißt nur, sie kommt nicht wieder. Das wünscht man keinem, und dem Jan erst recht nicht. Ach, Hannes, wie die Zeit vergeht, wie wenig man sie schätzt. Vielleicht kann man sich mal treffen. Das wär schon ganz gut. Aber vorher, aber vorerst muss ich das hier hinter mich bekommen. Das Krankenhaus ist schon sehr still.
Meine Freundin kommt mich besuchen, zusammen mit meinen Eltern. Sie kommt durch die Tür und dreht sich um und geht. Sie hat wohl was vergessen. Als sie später wiederkommt, ist ihr Gesicht ganz verquollen. Ich wollte danach fragen, aber ich sage nichts. Sie kommt zu mir ans Bett, und auf die Wange gibt sie mir ganz zärtlich einen Kuss, ganz zart, dass ich ihn kaum spüre. Vielleicht küsst du mich mal richtig!, einen dicken Schmatz, einen richtigen Kuss und bitte auf die Lippen! Aber ich sage nichts, ich will sie nicht bedrängen. Sie nimmt meine Hand in ihre, und auch die spüre ich nicht, mein Arm ist wohl eingeschlafen. Das Krankenhaus macht mich träge. Mein Vati steht am Fenster und starrt durch die riesigen Scheiben. Meine Mutti sitzt auf der anderen Seite des Bettes. Ich seh sie kaum. Sie haben mir zwar das Asphaltsteinchen vom Auge genommen, es drückt nicht mehr, aber mein Auge ist wohl noch geschwollen. Ich weiß ja, wie Mutti aussieht.
Die Sicht ist sowieso ein wenig versperrt. Wegen des Apparats, aus dem ich trinken kann. Direkt vor meinem Gesicht. Dabei bin ich nicht einmal Privatpatient. Aber vielleicht ist das jetzt so Standard im Krankenhaus. Brauche mich garnicht zu bewegen, das Krankenhaus macht mich so träge. Ich weiß garnicht wie ich auf die Toilette gehen soll, bei soviel Trägheit, aber ich merke, dass ich erst einmal nicht muss.