Der Vogel
Das Kunstmuseum war gut besucht, mehrere Leute versammelten sich vor den einzelnen Bildern. Ole schritt langsam die Gemälde ab und fand sich vor einem seiner Meinung nach skurrilen Exemplar wieder. Ein einzelner grüner Vogel mit einem riesigen Schnabel. Der Vogel war als Portrait gezeichnet, in ganzer Größe von bestimmt zwei Metern Höhe. Ole stand vor dem Gemälde, verschränkte anerkennend die Arme vor der Brust und fand es irgendwie ganz witzig. Der Vogel war komplett grasgrün, vom Schnabel bis zum Stütz. Und mit einer überaus dicken schwarzen Linie umrandet. Auch seine Stelzen und Krallen waren tiefschwarz. Der Vogel stand mit geschlossenen Augen aufrecht, den Kopf zu Seite gewandt, sein langer Schnabel kam dadurch besonders zur Geltung. Er wirkte so etwas hochschnabelig. Einen Flügel hielt er beinah demonstrativ vor die Brust geschlagen.
Ole stand davor und hielt den Kopf schief. Da fiel ihm ein, er schlüpfte die ganze Zeit schon beinah aus seinem linken Schuh. Sein Schnürsenkel war offen. Ole beugte sich hinunter, um ihn wieder zuzubinden. An seinem Rücken wischte plötzlich etwas entlang. Nur ganz kurz. Es fühlte sich weich an und war breit und fächerartig. Ole richtete sich abrupt auf. Schaute zu allen Seiten, aber da war nichts ungewöhnliches zu sehen, nichts oder niemand was hätte ihn streifen können. Alle Gesichter waren gebannt auf die Gemälde gerichtet. Er beugte sich wieder zu seinem Schuh und band dessen Schnürsenkel fest.
Noch vorn übergebeugt, bemerkt er, links und rechts von ihm waren keine Schuhe von Besuchern mehr zu sehen. Ole richtete sich schnell auf. Und tatsächlich war niemand mehr im Saal. Wohin waren die Besucher plötzlich alle? Solange hatte er seinen Schuh doch garnicht zugebunden. Gab es eine Ansage, die er nicht gehört hatte? Er drehte sich um und schritt irritiert zum Saalausgang. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Als wäre etwas auf den Boden gefallen. Klackernd. Ole hielt mitten in seiner Bewegung abrupt inne. War da wirklich ein Geräusch oder hat er sich das eingebildet? Es war ja niemand mehr in dem Raum, da war er sich ganz sicher. Manchmal hört man Dinge... Angestrengt lauschte er in die Leere. Aus irgendeinem Grund traute er sich nicht sich umzudrehen. Erst wollte er das Geräusch nochmal hören, um es einordnen zu können. Seine Ohren dröhnten vor Anstrengung. Er hielt ganz still.
Klack, klack. Da war es. Wie von weit her. Ein Geräusch wie in Watte gehüllt. Seine Ohren waren ganz heiß geworden. Und dann ein kurzes Flattern, wie von einer ausgeschüttelten Decke. Ole bildete sich ein, einen Windhauch gespürt zu haben. Er drehte sich um. Dort stand der Vogel. Vor dem leeren Gemälde. Der Vogel, der eben noch im Rahmen posierte, er stand jetzt vor ihm, ein paar Meter von ihm entfernt. Ole's Augen wurden mit einem Schlag riesig. Aus der Erstarrung erlöst, schaute er hastig nach allen Seiten, aber er war allein. Kalter Schweiß legte sich ihm auf die Stirn. Nun machte sich Panik in ihm breit. Er schluckte, seine Kehle war heiß und trocken. Das Schlucken schaffte es nicht mal bis zur Mitte. Sein Hals schien um das Mehrfache angeschwollen.
Der Vogel klimperte kurz mit den Augen und schaute ihn an. Er stand einfach nur vor Ole und rührte sich nicht. Ole musste erneut schlucken, zumindest versuchte er es. Plötzlich tappte der Vogel auf ihn zu! Ole's Kopf wich reflexartig zurück und seine Augen wurden so groß wie sein Kopf selbst. Sein ganzer Körper pochte. Die Krallen des Vogels tapsten auf dem Holzdielen, klack-klack-klack-klack. Er tappte auf Ole zu und blieb vor ihm stehen bis auf die Länge seines Schnabels. Der war zum Glück sehr lang, aber auch sehr spitz. Die Schnabelspitze fixierte Ole schielend vor seiner Nase. Obwohl er eine überdurchschnittliche Körpergröße hatte schaute er leicht zu dem Vogel rauf, dieser war doch sehr groß. Erneut war sein Körper erstarrt.
"Wieso geh ich nicht einfach ein paar Schritte zurück?", fragte Ole sich selbst. Er tat einen Schritt zurück. Der Vogel tappte sogleich nach. Als hätte Ole es geahnt. Es nützte also nichts. Ole stand noch immer mit ungesund aufgerissenen Augen da. Er traute sich nicht mit den Augen zu klimpern. Er wollte nichts verpassen. Der Vogel und Ole standen sich noch immer voreinander. Der Vogel klimperte mit den Augen und schaute Ole weiter an. Plötzlich drehte der Vogel seinen Kopf zur Seite, öffnete seinen ewig langen Schnabel und klackte ihn dreimal kräftig zusammen. Klack. Klack. Klack. Er hob einen seiner Flügel und machte das Geräusch eines Flügelschlags. Er drehte seinen Kopf wieder zurück zu Ole. Schnabel an Nase. Das Krachen des Schnabels hallte noch nach. Sie standen wieder Auge um Auge.
Plötzlich drehte der Vogel seinen Kopf erneut zur Seite und ließ seinen Schnabel dreimal zusammenklacken, dazu der Flügelschlag. Dann schaute er Ole wieder direkt an. Will er mir damit etwas sagen?, fragte sich Ole. Er war nun nicht mehr so erstarrt, aber immer noch mächtig beeindruckt. Der Vogel drehte sich nun gänzlich zur Seite, knickte seine Stelzen ein und hockte sich etwas hin. Dabei ließ er seinen Blick weiter auf Ole ruhen. Einen Flügel streckte er zu Ole. Ole war verwirrt. Wollte der Vogel ihn auf den Rücken? Das gibt es doch nicht! Er schüttelte irritiert den Kopf. Unbewusst, beinah reflexartig berührte er den ihm entgegengestreckten Flügel. Der war kaum aufgespannt, aber man konnte ahnen, welche enorme Flügelweite dieser hatte. Die obere Kante des Flügels war wahnsinnig kräftig. Ole glitt mit einer Hand daran entlang. Da umschloss der Flügel auch schon geschickt Ole's Oberkörper und zog ihn behutsam näher. Er wusste nicht, wie das passiert ist, aber ganz natürlich rutschte er auf den Rücken des Vogels. Der Flügel war so kräftig, aber er hatte ihn kaum gespürt! Er wusste kaum wie ihm geschah, schon tappte der Vogel mit ihm auf dem Rücken zu einem der großen Fenster. Geschickt öffnete es der Vogel mit seinem Schnabel und schritt mit seinen langen Stelzen auf den Fensterrahmen. Er musste noch nicht mal hochspringen.
Ole's Herz pochte ihm bis zum Hals. Sein Gesicht war puterrot, aber statt Angst spürte er nur noch den Rausch der Erwartung. Der Vogel klappte seinen Schnabel dreimal geräuschvoll auf und zu. Mit einem kräftigen Flügelschlag stieß er sich vom Fensterrahmen ab. Eine Welle der Energie rollte durch Ole hindurch. Er schoss auf einer Kraft in die Höhe, die er nie für möglich gehalten hat. Er saß fest auf dem Rücken des Vogels. Es war das einfachste der Welt. Flügelschlag um Flügelschlag immer höher. Der Wind wirbelte durch die winzigen Härchen seiner Haut. Sein Gesicht fühlte sich an, wie überzogen von bauschigem Flaum. Er grub seinen Oberkörper tief in das Federkleid des Vogels. Es war überwältigend! Links und rechts von ihm schlugen Flügel hoch und nieder, deren Ende er kaum ausmachen konnte. Die Welt unter ihm wurde immer kleiner. Der Vogel flog weiter und weiter. Über seine Heimatstadt, über Felder, über Menschen hinweg, und über ihnen die Sonne so nah. Der Vogel rauschte im Gleitflug dahin, vollführte einige spektakuläre Sinkflüge. Es war unbeschreiblich. Sobald ein Vogel nicht mehr den Boden berührt, so scheint es, geben sich die weit aufgespannten Flügel in der Luft völlig unbeeindruckt der Anziehungskraft. Als würden sie sich mit ein paar Flügelschlägen von ihr lösen und nähmen sie sich nur soviel der Kraft wie sie für einen stabilen Flug brauchen.
Der Vogel klackte einmal mit dem Schnabel und glitt in einen ruhigen Sinkflug. Ole schloss die Augen und lächelt. Es wurde ganz still und ruhig. Die Ewigkeit konnte nicht länger sein. Er öffnete die Augen. Der Vogel hockte mit Ole auf dem Rücken wieder im Fensterrahmen. Seinen Schnabel ließ der Vogel nochmal dreimal klacken und hüpfte zurück in das Gebäude. Ole glitt erschöpft am Flügel des Vogels hinab. Sie standen nun wieder Schnabel an Nase voreinander. Ole spürte noch immer, wie ihm der Wind über das Gesicht strömt. Der Vogel klimperte mit den Augen. Ole lächelte. Er drehte sich zum Saalausgang und vernahm dabei ein leises Tippeln. Als er sich zurückdrehte, stand der Vogel wieder im Gemälde. Als wäre nichts geschehen. Ole lächelte noch immer. Der Vogel klackte einmal mit seinem Schnabel und zwinkerte ihm zu.
Loblied auf das weise Alter
… oder: Der erhaschte Moment. messerscharfer verstand, spitzfindiger . . .