Die Zwei P’s
[.Ünktlichkeit, .Olygamie]Die Frau [mittleren Alters, zwei erwachsene Kinder, ein frühes Enkelkind ist unterwegs], korrekt den Erwartungen gekleidet im klassischen Zweiteiler, Rock, Blazer, dazu eine helle Bluse [und dazu dunkle Nylonstrumpfhose in feinen Schuhen] betritt den Seminarraum, geht an den für sie vorgesehenen Schreibtisch, wischt mit der flachen Hand darüber, sauber, und legt ihren Stapel ab, den sie unter ihren Arm geklemmt hatte. Zeitschriften, Bücher, mehrere lose Blätter, daneben stellt sie ihre übergroße Handtasche mit Kurzhenkel, kramt aus dieser Bleistift, Kugelschreiber und Lippenpomade, für den Fall der Fälle, heraus und platziert die Tasche links von sich neben den Schreibtisch auf den Boden. Sie ist nicht allein, es sind bereits zwei Kursteilnehmer anwesend, sie hat sie garnicht bemerkt, die beiden tippen auf ihren Smartphones, tippen und wischen. Es ist fünfzehn Uhr dreiundvierzig. Die Frau räuspert sich. - Guten Tag wünsche ich, entschuldigen Sie, ich war ganz vertieft und habe Sie beide garnicht bemerkt. - Beide schauen auf, versuchen höflich nicht zu nuscheln und sagen so deutlich wie möglich Guten Tag und der andere Schon gut, hallo. Sie ist die Kursleiterin, man kennt sich. Frau Ehlert grüßt kopfnickend freundlich zurück. Die beiden Männer tippen, wischen weiter. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und beschäftigt sich mit ihrem Stapel. Ab und an schlendert ein Neuankömmling diesen Tages durch die Tür, wünscht einen Guten Tag oder sagt Hallo und legt seine Klamotten an seinen ihm angestammten Platz. Der Kurs findet wie gewöhnlich in einer Art Klassenzimmer eingerichteten Räumlichkeit statt, lichtdurchflutet, klein aber geräumig. Die Kursteilnehmer tröpfeln nun wie am Fließband in den Raum, es füllt sich, man unterhält sich oder widmet sich den Smartphones, oder beides gleichzeitig. Ein Lachen, ein ungläubiges Staunen, es wird belebt, in kurzer Zeit. Es ist fünfzehn Uhr zweiundfünfzig, alle Teilnehmer sind bereits eingetroffen, man wartet nurnoch darauf, dass der Kurs beginnt, vertreibt sich die Zeit locker miteinander. Langsam wird es stiller, man schaut bedöppelt vor sich her, einige setzen sich, der Unterhaltungsstoff geht aus. Man wartet auf die Zeit. Ein Teilnehmer, ein junger Mann, Ende zwanzig, guckt in die Runde, überlegt, traut sich und macht einen Schritt in Richtung Kursleiterin am Schreibtisch, wie um damit seine Worte zu betonen. - Äh, Frau Ehlert? - Frau Ehlert schaut hoch. - Wir sind jetzt schon alle beisammen, also eigentlich könnten wir auch schon jetzt anfangen, ich glaub da hat niemand was dagegen. - Er hält seinen Mund etwas schief, seinen Kopf auch. Zum Beweis, zur Absicherung schaut er in die Runde, alles nickt, auch diejenigen, die auf ihre Smartphones starren. Frau Ehlert guckt, eben noch vertieft in ihre Unterlagen, lässt sie die Frage in ihrem Kopf revuepassieren, dreht ihren Oberkörper zur Wand hinter sich, schaut hoch an die Wand. Die Uhr zeigt fünfzehn Uhr vierundfünfzig. Sie dreht sich zurück, schaut ungläubig, ist verwirrt, jetzt schon? - Naja, ich meine... - Der Mann redet weiter. - Es ist doch einerlei, jetzt oder in fünf Minuten. Wir können ja dann auch früher aufhören. - Wieder dieser schiefe Mund. Frau Ehlert schaut Herrn Goletsch an. Doch noch etwas durcheinander. Sie beißt sich unbemerkt auf die Unterlippe. Er hat ja recht, er hat schon recht, man könne auch früher anfangen, räumt sie innerlich für sich ein, nur, ein Moment, das legitimierte dann auch einen späteren Beginn, stimmt, und wer weiß wohin das führte, sie wollte doch noch diesen Absatz... , wenn man eine Uhrzeit abstimmte, dann muss man sich auch daran halten, sonst macht es ja keinen Sinn. Ja, so ist es. Diesen Absatz will sie noch zuendelesen. Sie hat ihren Standpunkt gefunden. Außerdem hat sie hier die autoritäre Funktion zu erfüllen. - Herr Goletsch, das ist schon verständlich, das ist kein unsäglicher Vorschlag, den Sie machen, und natürlich kann man, wenn alle anwesend sind, und einverstanden sind schon früher als verabredet mit dem Kurs beginnen, und natürlich auch entsprechend früher aufhören. Aber bedenken Sie, dies gerechtfertigte auf der anderen Seite, auch mal später anzufangen, und wer weiß wohin das führte, warten wir fünf Minuten, warten wir zehn, oder eine halbe Stunde? Wenn man eine Uhrzeit abstimmt, dann muss man sich auch daran halten, sonst macht es keinen Sinn. - Wieso spricht sie plötzlich so kompliziert? Und so viel? Worüber reden wir hier gerade? Sie fühlt sich besser, aber auch falsch. Herr Goletsch will schon etwas einwerfen, als ihr noch etwas einfällt. - Und Sie müssen ja auch den psychologischen Effekt sehen, den ein Termin hat, wenn Sie eine Uhrzeit im Kopf haben und schon früher da sind, haben Sie noch die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen, sich mental vorzubereiten, oder bis zur besagten Zeit entspannen, diese Gelegenheit der Pause sollten Sie nicht unterschätzen. - Sie fummelt mit dem Zeigefinger an einer Papierecke entlang. Wieso hat sie es so kompliziert gemacht? So angestrengt? Können wir nicht die Zeit zurückspulen und es nochmal versuchen? Die anderen Anwesenden sind ruhig. Sie schaut Herrn Goletsch an. Wenn er auch verlegen wirkt, er lässt nicht locker. Frau Ehlert rutscht auf ihren Stuhl einmal vor und zurück. - Ich glaube, wir sind jetzt schon entspannt genug - sagt er kleinlaut, zerknirscht, aber freundlich - Ich meine, das ist auch so eine Sache, wenn noch jemand fehlt, ist es denn so schlimm noch fünf Minuten zu warten? Aber gut, wenn Sie meinen, dass es ausufern würde, dann fangen wir eben nicht später als um vier an. Aber wenn wir alle schon da sind, können wir dann nicht wenigstens früher anfangen? Dann können wir auch früher aufhören, oder machen beim nächsten Mal früher Schluss oder so. Ich dachte immer, pünktlich heißt, nicht viel später anzufangen, aber schon vorher geht immer. Ich meine, wieso klammert man sich so krampfhaft punktgenau an die Zeit. Es ist doch nur ein Mittel dafür, sich gleichzeitig zu treffen, und wenn man sich getroffen hat, dann verliert die Zeit doch ihren Zweck? - Die Kursleiterin ist wie vor den Kopf gestoßen, will er es jetzt erzwingen? Langsam bohrt er sich fest, doch senkt den Kopf in der Erkenntnis, hier nicht weiterzukommen. Frau Ehlert befummelt nun ihren Bleistift und hätte die Diskussion gern für beendet gesehen. Dieser unnötige Druck. Standhaft sein, autoritär sein. - Herr Goletsch, Sie führen sicherlich einige Argumente an, die nicht abwegig sind, aber Sie wissen auch, dass diese Diskussion zu nichts führt. Man muss hierbei alle Seiten bedenken. Sehen Sie, wenn man nun verabredete, die Gruppe könne sich auch früher treffen, dann wird zum einen der Termin von vornherein wage, zum anderen entwickelte sich dadurch womöglich Unmut bei denjenigen Teilnehmern, die früher können oder früher da sind gegenüber denjenigen, die später als sie kommen obwohl selbst die trotzdem noch früher als der offizielle Termin da sind, aber durch ihr vermeintliches Zu-spät-kommen einen vorzeitigen Beginn des Kurses verhindert. Es sollte sich niemand gehetzt oder unter Druck gesetzt oder gar verurteilt fühlen. Die Gruppe könne dadurch einen inhomogenen ausgrenzenden Charakter entwickeln und dann hätte der vermeintliche lockere Umgang mit der Zeit statt eines positiven Effektes im Grunde den Zeitdruck gar erhöht. - Die Kursleiterin ist erleichtert, zufrieden mit ihren Argumenten sackt sie entspannt auf ihre angewinkelt aufgestützten Arme. Ihre Argumente waren umfassend und solide, wie sie findet. Aber soviel Worte, schön viele Worte, aber zuviele, so angespannt. Worüber reden wir hier eigentlich? Die Gesichter der anderen in dem Raum scheinen nicht begeistert. Sie wühlt in ihren Unterlagen. Herr Goletsch senkt den Kopf, grummelt. - Ja, schon gut. - Er lässt locker. Es ist sechzehn Uhr eins. Frau Ehlerts Blick auf die Uhr fällt, sie erhebt sich hektisch. [Den Absatz zuendelesen muss warten.] - Nun, liebe Teilnehmer, unser Kurs hat nun tatsächlich schon begonnen. Ich wünsche Ihnen nochmals einen schönen guten Tag und verzeihen Sie die kleine Diskussion soeben. So nun gut, zum Thema, das Thema, welches ich heute zum Diskurs stelle, ist das Thema Beziehungen. Dafür möchte ich Sie bitten, die Tische an die Seiten zu schieben und Ihre Stühle in eine Runde in der Mitte des Raumes zu platzieren. Das wird unser Diskussionsvorhaben erleichtern und es wird in sich selbst bereits ein Bild von Beziehung entstehen lassen. - Sie nickt den Anwesenden zu, lächelt. Noch nicht alle Teilnehmer haben sich bis dahin hingesetzt, die anderen, die sitzen, stehen auf. Tische werden gerückt, Taschen verstaut, es rumpelt, quietscht, schiebt. Die Kursleiterin dirigiert die Stuhlrunde noch etwas aus, verfeinert ihre Form. Am Ende sitzen alle in einem dann doch eiförmigen Stuhlkreis, die Kursleiterin am spitzen Ende. Es ist sechzehn Uhr elf. Die Kursleiterin schaut in die Runde und erklärt mit nach Begeisterung suchenden, lächelnd geweiteten Augen. - Im Hinblick darauf, dass wir uns, wie ich schon beim letzten Mal angekündigt habe, wie Sie es laut Kursplan wissen, in den folgenden Wochen der Entwicklung von Beziehungen, Ehe, Freundschaft aber auch gesellschaftlicher Muster in der Literatur beziehungsweise dessen Darstellung und Ausdrucksweise sowie beschreibenden Stile widmen werden, möchte ich als Einstieg erst einmal einen Blick in das aktuelle Dasein werfen. Beziehungsweise von Ihnen werfen lassen. Das heißt Beziehungen heute, in unserer Gesellschaft, das was Sie selber derzeit erleben oder welche Ansichten Sie selber zum Thema Beziehungen haben. - Die Gesichter in der Runde sind noch ein bisschen betäubt, irritiert, regungslos des Prologs dieses Zusammentreffens, vergessen nur langsam. - Ich stelle mir vor, dass Sie reihum nacheinander über Ihre Erfahrungen, Eindrücke, Wünsche erzählen, aber auch über Ihre Ängste reden, was Ihre Partnerschaft, Ihre Beziehungen zu Freunden, Kindern oder Eltern oder Bekannten betrifft, natürlich nur soweit Sie darüber erzählen möchten, wie oder was Sie erzählen, bleibt Ihre Entscheidung. Es kann auch verallgemeinert werden oder es kann sich um eine dritte Person handeln. Erzählen Sie nur soweit über Ihre Erfahrungen und Ansichten wie Sie es wollen. - Sie schaut gespannt in die Runde. Nickt. Mit ermutigenden geweiteten Augen. Vergesst doch bitte das von vorhin. Wir sind doch jetzt eine schöne lockere Runde. - Damit wir jeden zu Wort kommen lassen können, bitte ich Sie, bei Ihren Ausführungen dennoch auf das Wesentliche zu sprechen zu kommen, Ihre Ausführungen kurz zu halten. Sofern Diskussionsbedarf besteht, oder jemand kommentieren möchte, können Sie parallel einsteigen, wenn möglich, würde ich eine allumfassende Diskussion erst im Nachhinein anschieben, nachdem alle an der Reihe waren. - Sie zieht die Lippen wieder auseinander. Soll nicht gequält aussehen. Sie nickt und lächelt, doch ohne ihre Augen. - Herr Goletsch, würden Sie bitte anfangen? Danach geht es bitte mit Frau Ebing weiter. - Herr Goletsch rutscht sich auf seinem Stuhl gerade. Herr Schmehlk ist der vierte in der Runde, als Herr Vieulic mit dem Kopf schüttelt, ihm wird es zu bunt. - Tzzz - entrinnt es ihm. - Herr Vieulic? - Frau Ehlert spricht ihn an. - Möchten Sie etwas dazu beitragen? - Herr Vieulic hält seinen Kopf gesenkt, die Arme auf und vor der Brust verschränkt, und schüttelt ihn noch immer. - Ich verstehe das nicht - er schüttelt weiter seinen Kopf, diesmal erhoben, er schaut hoch, - Ich höre nur, ich hatte soundsoviele Beziehungen, ich bin geschieden, ich bin zum zweiten Mal verheiratet, und so weiter, und so weiter. Das kann doch nicht wahr sein. - Er schüttelt seinen Kopf und schnauft. - Wie kann das sein? Ich bin jetzt achtundzwanzig Jahre alt, hab mit achtzehn meine jetzige Frau kennengelernt, wir haben - er hebt einen Unterarm, er hebt den Zeigefinger - nachdem wir uns zwei Jahre gekannt haben, geheiratet. - Sein Arm wandert zurück, wieder verschränkt er seine Arme. - Sie war meine erste Freundin und ist nun meine Frau und wird es auch fürimmer sein. Ich habe mich für sie entschieden und dabei bleibt es. Ich hatte vorher keine andere Frau und ich werde auch später keine andere Frau haben. - Und wackelt in alle Richtungen mit dem Kopf. - Und wenn ich hier höre, och, da hatte ich erst hier eine und dann da und dann sind wir wieder auseinander. Ich verstehe das nicht. Wenn ich höre, irgendwo auf der Welt gibt es Völker, da hat der Mann mehrere Ehefrauen, und dann schaut Ihr mich an und sagt, ja, mehrere Ehefrauen, das gibt's doch garnicht! Das geht ja garnicht! Monogamie! Von wegen! Polygamie! - Alles guckt ihn unverständlich an. - Und dann erzählt Ihr mir, dass mehrere Frauen nicht gehen, nur weil man sie gleichzeitig hat. Aber mehrere Ehefrauen gingen schon, man muss sie nur nacheinander haben, oder was? Von den Überschneidungen beim Fremdgehen will ich garnicht erst anfangen. Ihr verabscheut Polygamie, aber meint, wenn man das zeitlich streckt, wäre das was anderes? Echt nicht, versteh ich nicht! - Seine Arme in der Luft. Hoch und runter. - Ich bin monogam! Habe nur eine einzige Frau jemals in meinem Leben gehabt, und habe sie ausgewählt, und sie mich natürlich, um den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen! Nicht mit der oder der oder der nach einer anderen, wenn ich keine Lust mehr auf die eine habe. Das ist Monogamie! Und egal, ob ich verheiratet bin oder nicht, eine Frau für den Rest meines Lebens. Man kann sich doch Zeit nehmen, man hat doch genug Zeit, die richtige zu finden! - Er schlägt die Hände an den Kopf und rauft in seinen Haaren. Das Thema hat ihn ziemlich aufgebracht. Die anderen Teilnehmer gucken. Manche starren vor sich hin und überlegen, was sollen sie jetzt denken? Sind irgendwie zerknirscht, verstehen es nicht so richtig. Was ist denn hier jetzt richtig? Eigentlich wäre Herr Temel noch nicht an der Reihe, aber jetzt sagt er doch schon was. - Also ich, ähm, also ich habe mal so überschlagen, auch die Beziehungen, die ich nur sehr kurzzeitig hatte... - er schaut kaum hoch, blinzelt nur nach links und rechts, wirkt selbst ein wenig fertig von der Erkenntnis, zumindest doch geknickt. Ein Atemzug. - Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Und hatte so, echt, so ungefähr achtundsiebzig Beziehungen. - Seine Augen schauen kurz hoch. Er reibt auf seinem Kopf herum. Angeschockt, als wäre er nicht dabei gewesen. Als wäre es jetzt etwas völlig anderes. Betreten starrt er vor sich hin. In einer anderen Runde hätte man wahrscheinlich applaudiert. Schweigen. Die Runde senkt ihre Köpfe. Die Wanduhr tickte unermüdlich. Erbarmungslos.
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