Dort unten
Von der Brücke aus gesehen, scheint der Fluss viel trister und überhaupt nicht so lebendig, wie wenn man direkt am Kai sitzen und draufschauen würde. Dort unten kommt es einem vor als säße man direkt am Meer, das macht wohl die Perspektive. Im Grunde kann man dann sogar bis hinter dieses kleine Meer sehen, weil man ja bis auf die andere Seite des Flussufers schaut.
Grau und trübe sieht das Wasser von hier oben aus, auch wenn es manchmal auf der Oberfläche nett glitzert. Der Beton am Flussufer hat beinah schon die gleiche Farbe, grau-in-grau. Rechts und links vom Fluss liegen auf den Wiesen eine Handvoll Verstreuter, der Länge nach ausgestreckt, mit den Armen hinter den Köpfen verschränkt, bäuchlings oder ihre Sonnenbrillen testend, die aalen sich in den Sonnenstrahlen.
Hier oben donnern immer mehr Fahrzeuge über die Brücke. Es ist wohl schon Feierabend und mir pusten die Abgaswolken ins Gesicht. Als ich schon beinah von der Brücke laufen will, seh ich noch am Rand des Ufers gleich neben dem Brückenende eine Art Tonne aus dem Wasser ragen. Es scheint ein Blechrohr zu sein, nur eben viel größer, mit einem breiten Durchmesser, wie eine Regentonne. Komisch, die war mir bisher nie aufgefallen, obwohl sie direkt in der Nähe der Treppe steht, neben Brücke und Flussufer. Aber die hatte ich wohl sonst übersehen, vielleicht ist sie vom Ufer aus auch garnicht zu erkennen.
Die Brücke entlang, die Treppe hinunter, wollte ich sogleich den Fluss weiter, als mir das Regentonnenrohr wieder einfällt. Ich wollte mich doch vergewissern, ob es tatsächlich von hier unten so schlecht zu sehen ist, so schlecht einzusehen ist, und tatsächlich, von der Treppe aus, fiel sie mir kaum auf, sie endete noch unter der Höhe der Kaimauer.
Erst recht ist sie mir wohl nie aufgefallen, weil ich immer gleich von der Treppe abbiege und in die andere Richtung zu den Uferwiesen laufe. Ich muss ein paar Schritte an die Kaikante herantreten, um die Rohrtonne wiederzuentdecken. Wieso sich solch ein Rohr dort befindet, macht für mich keinen Sinn. Es steckt senkrecht im Wasser, leicht schräg, wie eine langgezogene Blechdose, tatsächlich so geriffelt, aber mit einem unerklärlich breiten Durchmesser. Es ist nicht nur ein Rohr, Abwasserrohr oder so etwas, und ragte zudem wie gesagt in die Höhe, bis etwa einen Meter über dem Flusswasserspiegel. Vor dem Rohr befindet sich ein kleiner Absatz, ein kleines Plateau, auf das ich über die in der Ufermauer eingelassene Steintreppe gelange. Jetzt will ich es doch genau wissen.
Am Rohr hängt ein Netz an einem Haken, einem eingeschlagenen Nagel, der verbogen ist. Das Netz hängt wie vergessen, aber es wirkt noch intakt. Vielleicht ist das Rohr eine Art Fischfanggerät. Allerdings nicht sehr logisch. Ich beuge mich über die Öffnung. Zuerst sehe ich nur Rohrinnenwand, rostig und weiter unten von der Dunkelheit verschluckt. Dann schatte ich meine Augen ab, mit beiden Händen, es fehlt etwas, dort unten müsste doch zumindest Wasser sein, es plätschert nichts. Ich spähe tiefer in das Rohr, auch so, dass meine Ohren unter die Rohröffnung gelangen, es muss doch etwas zu hören sein. Ich halte ganz still, atme nicht und blinzele ins Rohr. Da muss doch etwas zu sehen sein. Ich drehe meine Augen in alle Richtungen, rolle sie die Rohrwand entlang, hoch und runter, um den blinden Fleck auszutricksen. Immer noch halte ich meine Hände über den Augenbrauen. Plötzlich schiebt sich was vor meine Augen. Ein Lichtpunkt, ganz klein, aber hell und immer klarer. Dort unten seh ich, gibt es Licht. Ganz am Ende des Rohrs, es steckt nicht im Flussboden sondern hängt etwas darüber. Dort bewegt sich etwas und ich erkenne Sand, weit entfernt. Der Fluss sieht sonst garnicht so tief aus. Und dort unten scheint er lichtdurchflutet. Ich ziehe den Kopf aus dem Rohr und die Hände vom Gesicht, um vernünftig zu atmen und wundere mich.
Auf dem Wasser sieht von hier aus alles aus wie immer. Zwar nicht so trüb wie von der Brücke aus, aber längst nicht so wie durch das Rohr. Ich überlege. Das Rohr ist breit genug, fast doppelt so breit wie ich es bin. Ich dürfte also nicht steckenbleiben. Ich rüttele am Rohr. Ein wenig wacklig, aber die Seitenwände sind wie erwartet robust. Was solls, seufze ich, und greife mit beiden Händen rechts und links auf die Rohrkante, jongliere mich an der geriffelten Außenwand empor, schwenke ein wenig hin und her, hieve mich hoch und klettere auf den Rohrrand in die Hocke.
Mit allen vier Gliedmaßen hänge ich nun über der Rohröffnung. Ich kletter mit den Beinen voran, breitbeinig an der Innenwand abgestützt, tiefer in das Rohr, bis auch meine Arme gegen die Wand schmerzhaft pressen, finde eine geeignete Rutschposition, und lasse los. Ich sause durch das Rohr, sause weiter, sause weiter durch die Luft, und platsche nicht ins Wasser, sondern bin schon längst darin! Ich gleite hinein, es rauscht dabei kaum, das Wasser wird immer dichter, es bremst mich, fast schwebend gleite ich am Ende aus dem Rohr. Ich atme nicht, ich trinke die Luft als Wasser. Ich bin unten.
Wo bin ich denn hier gelandet? Ich schau mich um. Direkt auf dem Meeresgrund, nur sieht der hier unten ganz anders aus wie von oben vermutet. Weitläufiger, belebt, hell und voll von Farben. Es erinnert mich irgendwie an eine Unterwassertrickfilmserie, die früher mal ganz gern guckte. Ich muss wohl in die Nähe einer besiedelten Gegend gelandet sein.
Es wimmelt um mich herum, eigentümliches Treiben wie in einem Park. In sichtbarer Entfernung am Horizont kann ich ein noch größeres Getümmel erkennen, ich meine auch so etwas wie Gebäude zu sehen, also eher Steinansammlungen, das muss wohl das Zentrum von dem Ort hier sein. Hier steh ich mittendrin am entspannten Rande. Was es hier alles gibt. Ich schaue um mich herum. Oder besser, wen es hier alles gibt. Kunterbunt, wild durcheinander. Hier sind nicht die Fische da und die Krebs dort, sondern jeder oder alles ging mit jedem oder alles herum. Manche Fische schwimmen, viele aber gehen aufrecht spazieren. Ein Fischvater mit seinem Fischkind an der Leine, das hängt vor ihm hoch im Wasser, er bringt ihm wohl Schwimmen bei.
Kaum hingeschaut, verheddert das Fischkind sich, macht eine ungewollte Rolle. Ein kleiner Krebs hängt auf dem Rücken des Fischvaters. Wieso bringen sie den Kindern Schwimmen bei, wenn sie als Erwachsene doch nur spazierengehen? Ein anderer Fisch hatte sich seine Kinder mit Algenband um den Körper gebunden. Es waren sehr viele Fischkinder. Fischfrau, Fischmann, es ist nicht zu erkennen. Die Fischkinder allerdings haben alle eine andere Farbe, manche orange, manche grau, und einige schimmern violett. Um seinem Hals hängt dem Fisch eine Algenkette, an der sich viele kleine Muscheln klammern.
Ein Haufen Krebse klappern mit ihren Scheren, drehen voreinander ihre Kreise, tanzend oder kämpfend. Ein Seepferdchenpärchen schwebt daneben und guckt. Vielleicht ist es auch nur sowas wie Unterhaltung, was die Krebse dort tun, eine Art Kommunikation, und sie meckern gerade oder halten sich gegenseitig eine Standpauke. Tja, wer weiß. Neben einem Stein öffnet sich eine riesige Muschel und schließt sich wieder, immer auf und zu, ganz sanft und immer so weiter, wie eine Art riesiger Fächer. Ich steh immer noch am selben Fleck. Ich schaue in das Rohr hinauf, ich weiß, ich muss hier irgendwie wieder raus. Wie soll ich da bloß wieder hoch kommen?
Ich weiß nicht, woher ich das weiß, vielleicht strömte die Information mit dem Wasser in meinen Kopf. Plötzlich habe ich so eine Ahnung wohin ich jetzt muss. Da es nicht weit entfernt liegt, beschließe ich mich dorthin zu Fuß zu begeben. Ich konnte das Schild schon von weitem sehen. Auch wenn ich es noch nie zuvor gesehen habe, weiß ich, es ist die richtige Anlaufstelle, das Zeichen auf dem Schild ist unverkennbar. Ich mache mich also auf den Weg. Und ich komme überhaupt nicht vorwärts. Ich glaub ich spinne, das Wasser ist richtig dick. Im Druck des schweren Wassers schleppe ich mich weiter in Richtung der Infostelle, aber komme und komme nicht voran. Mir scheint es, als wäre ich stundenlang unterwegs, dabei ist es doch gleich dort vorn.
Das Schild sind zwei lange Planken in den Meeresboden gerammtes Treibholz, dazwischen hängt hoch oben das Brett mit dem Buchstaben "i", dick und geschwungen, mit einem hübschen i-Punkt. Ein Schritt unter dem Schild hindurch und man steht vor dem Tischchen einer silbrigglänzenden Fischdame mit einer üppig wallenden Frisur. Sie hält den Kopf ein wenig zur Seite gewandt und beäugt mich, sie kann mich so wohl besser sehen. Sie saugt an einem Strohhalm. An einer Art Limonade. Schlammfarben. Schon von weitem habe ich gesehen, dass ich wohl der einzige Besucher bin.
"Guten Tag" sage ich. "Einen wunderschönen guten Tag!", flötet sie. Ich setze mich vor ihr auf den bereitstehenden Stein. "Was kann ich für Sie tun?", fragt sie, die Limonadenflasche immer noch in ihrer Flosse.
"Ich bräuchte eine Rückfahrt. An die Wasseroberfläche", erkläre ich verunsichert. Ich weiß noch nicht einmal, ob es sowas überhaupt gibt.
"Mmmhm." Die Endflosse der Fischdame fängt an ein wenig zwischen den beiden Steinen umherzuzappeln, die sich unter der Treibholztischplatte befinden. Auch wenn sie gern die Worte flötet, redet sie wohl nicht gern viel.
"Ich nehme an, mit dem nächstgelegenen Rückfahrtstunnel zum nächstmöglichen Zeitpunkt?" Ich nicke.
"Mmmhm." Sie pult mit der einen Flosse in ihren Unterlagen und saugt dabei wieder die Schlammlimo durch ihren Strohhalm. Die Unterlagen sind alle in Folie verschweißt, wasserdicht.
"Nun gut. Die nächste Reisemöglichkeit besteht um vier Uhr am morgigen Tag. Die Flut tritt alle acht Stunden ein, aber nur einmal am Tag ist sie ausreichend hoch, um die Reise vollständig zu gewährleisten. Wenn es nur ein Teil der Rückreisenden schafft oder gar jemand im Reiserohr steckenbleibt, tragen wir die Verantwortung. Die Erfahrung hat uns gelehrt, auf waghalsige Zugeständnisse an häufigeren Fahrten zu verzichten. Die ökonomischen Folgen einer Klagewelle können wir uns nicht leisten." Wenn sie spricht, dann in einem schnellen, knappen Rhythmus, kurz und prägnant, aber flötengleich.
"Ich hoffe, Sie haben Verständnis, also, wie gesagt, morgen um vier. Seien Sie bitte etwas früher da, die Reisenden werden für die Fahrt nach ihrer Körpergröße sortiert." Ich wüsste zwar nicht wofür das gut sein soll, frage aber auch nicht nach. Sie saugt an ihrer Limo. Und guckt mich dabei die ganze Zeit an. Ich nicke erneut.
Obwohl, fällt mir ein, so in aller Frühe, mitten in der Nacht, das ist so garnicht meine Aufstehzeit, eigentlich dachte ich, könne ich hier unten einmal übernachten.
"Dann brauche ich ja keine Schlafgelegenheit, wenn es so früh losgeht", sage ich unmittelbar laut heraus. Sie äugt mich seitlich an. Saugt an ihrem Strohhalm.
"Vier Uhr nachmittags", sagt sie. Und nimmt erneut einen Schluck. Ach so, wie peinlich. Sie schiebt mir ein in Folie eingeschweißtes Ticket rüber.
"Haben Sie Geld dabei?" Ich wühle in meinen Hosentaschen. Ich schaue an mir runter, das ist mir bisher garnicht aufgefallen. Warum bin ich eigentlich so klein? Zum Glück habe ich Münzen dabei.
Ich lege sie der Fischfrau auf den Treibholztisch. Sie winkt ab. Sie nimmt die Münzen, beäugt sie, öffnet eine neben sich stehende Truhe, die beinah so groß ist wie sie selbst. Daraus entnimmt sie einen Stapel von irgendwas, zählte ab und legt mir fünf in Plastikfolie eingeschweißte Geldscheine hin. Es sind teils zersetzte, abgewetzte Geldscheine anderer Währungen oder anderer Epochen. Man hat sie wohl am Meeresgrund gefunden, als Zahlungsmittel angenommen und zur Beständigkeit laminiert. Nach dem aufgedruckten Wert des einen zu urteilen, bin ich nun Millionär.
Die einbehaltenen Münzen steckt sie in einen großen gallertartigen Würfel, eine Art Gelee, vermutlich um sie vor dem Rosten zu schützen. Es befinden sich auch schon einige Münzen darin. Den Geleewürfel legt sie wieder in die Truhe zurück. Hier kann man also Reiseauskünfte erhalten und Geldwechsel erledigen. Es musste so eine Art Touristeninformation und Gemeindekasse in einem sein, vermute ich. Dass die Flut so auf die Minute genau kommt. Bemerkenswert.
"Dann kommt die große Flut also jeden Tag um vier Uhr?"
"Nein, das ist verschieden", antwortet sie prompt. Aber sagte sie nicht, die Flut käme alle acht Stunden?
"Aber Sie sagten doch...", fang ich an, da saugt sie schon wieder an ihrer Limo. Ich nicke nur. Ich danke ihr, verabschiede mich, sie wünscht mir eine gute Reise und saugt weiter an dem Strohhalm ihrer Schwammlimonade.
Vier Uhr nachmittags, dann habe ich ja noch ewig Zeit um die Gegend zu erkunden. Ich sehe auf meine Uhr. Elf Uhr. Elf Uhr? Es war doch vorhin später Nachmittag als ich hier runter kam. Ist es jetzt schon nachts elf Uhr?, also dreiundzwanzig Uhr? So musste es wohl sein, es kommt mir allerdings garnicht so spät vor, die Zeit vergeht hier unten wohlmöglich schneller, zumindest anders als an der Oberfläche. Wenn das so ist, dann bräuchte ich wohl wirklich keine Übernachtungsmöglichkeit. Müde bin ich nicht im geringsten, dann schaffe ich es bestimmt, mir bis zur Abreise die Zeit zu vertreiben.
Plötzlich bemerke ich wie neben mir wie sich der Sand wie ein Teller vom Boden löst, sich schüttelt und herzhaft gähnt. Der Rochen darin schwebt in die Höhe und gemütlich in Richtung Ortszentrum. Soviel zum Thema Übernachtungsmöglichkeit, das bestätigt meine Entscheidung. Ich schaue rundherum in die Gegend auf der Suche nach einem Zeitvertreib. Auf einige Sicht Entfernung entdecke ich eine Art Strandbar, wohl auch hier ein Klassiker, mit Schilfrohr und buntem Blütengehänge. Bis dorthin ist es zwar wieder ein Stückchen Fußmarsch, aber ich habe ja Zeit. Außerdem ist es in der Nähe des Reiserohrs, welches ich von hier aus in der anderen Richtung sehen kann.
Als ich nach einer Weile an der Strandbar ankomme, ist die Theke schon gut gefüllt, auf den Steinwall davor macht sich mitunter ein weitläufiger Krake breit. Sie dient wohl auch als Sitzgelegenheit für andere, denn Fische und Krebse und andere Gäste machen es sich zwischen ihren Tentakeln gemütlich. Ich setze mich auf einen noch freien Barhocker und bestelle den Cocktail des Tages, wohl wissend, dass ich mich damit richtig in die Nesseln setzen könnte, wer weiß was da drin ist, aber ich will mich nicht unwissend geben, außerdem ist mir hier sicherlich keines der Getränke bekannt. Der Barkeeper dreht seinen Kopf zur Seite und beäugt mich.
"Ein Grenaldino soll es also sein, ja?", fragt er kühl.
"Ja." antworte ich. Er hantiert ein wenig herum und schiebt mir ein schlammgrünes Getränk mit dekorativen Algenspießchen samt Strohhalm vor. Die Farbe kenne ich doch irgendwoher.
"Danke", sage ich und tue als sauge ich unbekümmert am Halm. Ich wage es kaum runterzuschlucken. Es schmeckt ein wenig fischig, aber auch minzig und irgendwie fruchtig. Nicht auszumachen was es ist, aber garnicht schlimm. In der Freiluftbar herrscht eine ausgelassene Stimmung, hier würde ich meine verbleibende Zeit sicherlich gut überbrücken.
Plötzlich bewegt sich mein Barhocker. Erschrocken springe ich herunter, nicht dass es sich um ein Meeresgetier handelt, welches ich mit einer gut getarnten Sitzgelegenheit verwechselt habe! Aber nicht nur der Hocker bewegt sich, es ist tatsächlich nur ein Hocker, auch alles rundherum gerät ins Wackeln.
"Halten Sie bitte alles fest wenn möglich! Verehrte Gäste, halten Sie bitte alles fest wenn möglich!", kreischt eine Krebsdame und schnappt mit ihren Scheren. Sie gehört wohl zum Personal und ist ganz rot geworden. Alles klammert sich an alles was umhersteht fest. Es rüttelt und schüttelt, saugt und schwappt. Was ist das nur! Wann hört das auf? Ich klammere mich an den Tresen und schaue zum Barkeeper. Der hält alle Gläser in seinen Flossen krampfhaft fest, scheint sonst aber völlig gelassen. Nicht mehr lang und es beruhigt sich. Das Wasser wird wieder ruhiger. Ich schaue den Barfischmann erschrocken fragend an. Er sagt nur: "Die Flut. Die Kleine." Ich schlucke. Also kann man die Reiseflut unmöglich verpassen. Ich deute auf mein noch volles Glas.
"Noch einen, bitte." Der Barfischmann schaut verdutzt. Ich kippe mein Glas in einem Zug. Und er verstand.
Ich bin spät dran. In der hübschen Strandbar habe ich die Zeit vertrödelt. Die zweite kleine Flut fand ich dann richtig aufregend, und als ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut habe, war es schon nach halb vier. Ich brauche jetzt dringend eine Mitfahrgelegenheit oder heißt es Mitschwimmgelegenheit?, zumindest musste ich irgendwie schnell zum Reiserohr.
Ich höre ein Schnappen, ein mehrfaches Klacken. Ich schaue mich um. Ein Krebs läuft wie nervös von rechts nach links, hin und her, aufrecht und mit seinen Scheren klappernd.
"Taxi, Taxi?" Seine Fühleraugen drehten. Meint er mich? Bin ich ein Taxi? Oder war er eins?
"Sind Sie ein Taxi?", frage ich.
"Si, si. Yes. Oui. Ja!" Er nickt ununterbrochen. Ich schaue ihn an.
"O.K.", willige ich ein, "Ich muss so schnell wie möglich zum Reiserohr." Ich deute mit meinem Kopf dorthin. Der Krebs lässt sein sechstes Bein fallen und deutet mit einer Schere auf seinen Rücken. Ich soll mich drauf setzen. Der Kopf des Krebses zeigt aber in die verkehrte Richtung, da will ich nicht hin. Ich habe keine Zeit für Umwege.
"Ich habs wirklich eilig", sage ich und zeige nochmal nach links, in Richtung des Rohres. Er nickt nur. Ich klettere auf seinen Rückenpanzer, da setzt er auch schon los. Mit einem Affentempo, pardon, Krebstempo, schnellt er seitlich in Richtung Ziel. Ich rutsche beinah ab. Natürlich! Krebsgang! Da muss man umdenken, da hätte ich auch drauf kommen können. Da gehts doch nur seitlich voran. Keine fünf Minuten später kommt er mit einem Ruck zum Stehen. Kompliment, kein übler Service. Ich rutsche ihm vom Rücken und krame in meiner Hosentasche. Ich gebe ihm einen verschweißten Geldschein, den ich für angebracht halte.
"Gracias, gracias. Thank you. Merci. Danke!" Er steht jetzt wieder aufrecht, wedelt mit einer Schere mit dem Geldschein, mit der anderen winkt er mir zu, mit einer weiteren kratzt er seinen Bauch und fängt wieder an von rechts nach links, hin und her zu tapseln. Ruft auch schon wieder "Taxi, Taxi?" als einer seiner Fühleraugen umherschielend neue potentielle Kundschaft entdeckt, die in der Nähe umherirrt. Eine Quittung gibt er mir nicht. Die würde ich Zuhause wahrscheinlich auch nirgends einreichen können.
Der Vorplatz ist rappelvoll, etwa zwanzig bis dreißig Fische und Meerestiere aller Art stehen dort, mehr soll es wohl auch nicht sein, denn ich sehe schon die Markierungen rechts und links, die wohl bei der anstehenden Sortierung als Eingrenzung dient. Allem Anschein nach hat man schon auf mich gewartet. Ich strecke meine "Fahrtenkarte" mit der Nummer achtundzwanzig dem Fischmännchen mit hanseatischer Mütze und merkwürdigem Glitzeranzug, fischhauteng, entgegen, welcher auf einem kleinen Podest stehend überwachend glubscht und den ich als richtigen Ansprechpartner dafür anseh. Er nimmt mein Ticket, reißt es in zwei Hälften und lässt sie auf den Boden fallen. Ich schaue den Schnipseln verdutzt nach. So einfach mal ein in Plastik eingeschweißtes Kärtchen auseinanderreißen ist garnicht so einfach. Vor dem Fischmännchen liegt schon ein ordentlicher Haufen Plastikkartenhälften.
Plötzlich ein ohrenbetäubendes Trillern. Der Kartenzerteiler pustet mit aller Kraft in seine ihm mit einer Algenschnur um den Hals hängende Trillerpfeife. Dreimal kurz nacheinander. Mir schellen die Ohren. Alle Anwesenden drehen sich abrupt zum Fischmännchen. Die Reisenden werden angewiesen sich schnellstmöglich in einer Reihe nach Körpergröße zu sortieren. Jene, die breiter als hoch sind, sollen sich doch bitte hochkant stellen, es sei ja nur für die Dauer der Reise. Ich kann nicht jede seiner Worte verstehen, meine Ohren fiepen noch nach, aber ich finde mich schließlich im hinteren Drittel der Reihe wieder, der Mitfahrende links von mir ist kleiner, der rechts von mir ist größer, passt also.
Das Fischmännchen schreitet einmal beäugend die Reihe ab, nickt anerkennend darüber, dass es beim ersten Mal so gut geklappt hat, nur an einer Stelle tauscht er zwei Reisende, die Makrele mit seiner toupierten Locke muss mit einer ohne Locke tauschen. "Siehste, hab ich doch gesagt, dass die Frisur nicht gilt“, raunte noch die körperlich wirklich größere Makrele der anderen zu.
Ein ohrenbetäubendes Trillern überzieht die Anwesenden erneut. Das Fiepen in meinen Ohren hat sich gerade gelegt, nun ist es umso schlimmer. Das Fischmännchen geleitet uns nun allesamt in die schmale Röhre, die mir schon von der Herreise bekannt ist. Das Fischmännchen vorneweg. Es ist also auch Reisebegleiter. Wir befinden uns nun alle mehr oder weniger bequem in der Röhre, eher übereinandergestapelt als gemütlich positioniert. Der Reisebegleiter dreht sich vorn zu uns um.
Zwischen den Flossen, Scheren und toupierten Locken hindurch, kann ich ihn ab und zu zu sehen bekommen. Zu hören ist er gut: "Werte Reisende, beachten Sie bitte folgendes: Egal was passiert - bleiben Sie ruhig. Egal was passiert - halten Sie sich an Ihren Vordermann fest. Und versuchen sie nicht allzu viel Wasser zu schlucken." Haha, nicht zuviel Wasser schlucken, genau. Ich drehe mich lachend dieses Scherzes zu meinem Hintermann um, die Fischdame dort guckt aber nur wie ein Plötz. "Ich wünsche Ihnen eine gute Reise." Der Reisebegleiter dreht sich um und starrt Richtung Rohrausgang in die Höhe. Ich spüre wie sich allmählich der Druck in der Röhre erhöht, man kann spüren, wie sich das Wasser mehr Platz zu verschaffen sucht.
Urplötzlich und mit einer nicht zu erwarteten Kraft, bricht tobendes Wasser um uns herum. Halb Sog, halb Stoß von ungeheuerlicher Wucht katapultiert uns die Masse wie ein Pfeil angeordnete Reisende gen Höhe. Ich bekomme keine Luft mehr, verheddere mich beim Atmen, schlucke Unmengen Wasser, japse und klammere mich wie verrückt an meinem Vordermann fest. Ich bin das hier nicht gewohnt. Ich muss ihn ganz schön gequetscht haben, aber es hilft nichts, er ist meine einzige Rettung. Ich bin kurz davor zu meinen, ich sterbe als wir pfeilmäßig aneinandergereiht raus aus dem Wasser hoch in die Luft schleudern. Einen kurzen Moment schweben wir beinah, so friedlich, so wunderschön, fast wie in Zeitlupe, wir schweben allesamt hoch oben in der Luft, unter der wärmenden Sonne.
Und dann klatschen wir auf die Wasseroberfläche, in ein dort schwimmendes Netz, in das vormals an dem Haken hängende Netz, diesmal ist es mitten auf dem Fluss ausgebreit, ein beinah chorgleiches Hecheln und Atmen, ein viel zu schnelles Hecheln der Geschossreisenden, im Ringen nach Luft, selbst die Fische sind froh endlich an der Luft zu sein. Mein Herz hämmert noch nie gekannten Ausmaßes, meine Ohren fiepen nicht mehr, sie dröhnen.
Ich liege auf dem Rücken und starre traumatisiert gen Himmel, auch wenn ich die vorbeiziehenden Wolken bemerke, ich schaffe nicht sie richtig anzugucken. Nicht lange, da hüpfen die ersten von dem Netz und drehen im Wasser ihre Runden. Ich lege den Kopf zur Seite und beobachte die sich verstreuenden Reisenden. Aus den Augenwinkeln seh ich wie der Reisebegleiterfisch ins Wasser hüpft, eine Runde dreht und im Vorbeischwimmen mit einer Flosse das Reiserohr wieder in Richtung Kaimauer dreht.
Der Reisebegleiter schlüpft auf eine kleine Plattform unter dem Kanalrand, eingerichtet mit Liegestuhl und Sonnenschirm. Und saugt sogleich an einen schlammgrüngefüllten Glas, in dem ein Cocktailschirmchen steckt. Vermutlich vertreibt er sich so die Zeit bis zur offiziellen Rückreise. Ich reiße mich zusammen, rappele mich auf den Bauch und tauche mit meinen Beinen voran voller Unbehagen über den Netzrand. Den Kopf lasse ich natürlich über dem Wasser und schwimme zum Ufer, erklimme die Uferleiter und setze mich ins Gras und ziehe die Beine an mich ran.
Komischerweise bin ich jetzt wieder so groß wie sonst auch. Ich schaue rüber ins Wasser, auch die rundendrehenden Fische haben ihre fischübliche Größe. Der Reisebegleiter dreht erneut eine Runde und zieht dabei das nun leere Netz mit seiner Endflosse galant ein. Mit einer einzigen fließenden Bewegung, ohne in seiner Schwimmschleife ins Stocken zu geraten, hängt er es geschickt an den bekannten Haken. Ich sehe noch wie er sich dem Ufer zuwendet, hochhüpft und kurz über der Kaimauer aufblitzt. Von hier aus kann ich seine Pausenterrasse nicht einsehen.
Ich ziehe Shirt und Hose aus, wie auch Schuhe und Socken. Es ist ein warmer Sommertag. Allmählich werde ich entspannter und lege mich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Jetzt beobachte ich erst mal die vorbeiziehenden Wolken genauer. Wie es wohl dort oben aussehen mag?