Verloren
Ich mag gern an Dich denken, dann mach ich meine Augen zu und stell mir vor, wie schön es ist, wenn du bei mir bist, wenn wir was zusammen machen. Ui, jetzt hab ich laut gelacht, ich mach schnell meine Augen auf und gucke, der vor mir sitzt, schaut weg, der hat mich wohl gehört. Ich grinse ihn an, aber er guckt nicht mehr. Auf der anderen Seite sitzt einer mit riesengroßen Kopfhörern. Der hat die ganz laut gestellt, ich kann es bis hierhin hören. Du sagst immer, man soll die Kopfhörer nicht so laut stellen, das macht die Ohren kaputt. Der Typ kriegt bestimmt bald kaputte Ohren. Der ist wohl nicht der Schlauste. Nicht so schlau wie Du. Katharina. Katharina, die Große! Ja, Katharina, die Größte! Katharina, die Größte. Das bist Du. Immer wenn du zur mir kommst, streicht deine Hand, streichst du mit deiner Hand über meinen Kopf und legst dann deine Hand auf meine Schulter. Deine Hand ist so schön warm. Und du lässt sie da immer extra lange liegen. Du hattest auch mal einen Freund, den hattest du schon bevor wir uns kannten. Den hast du jetzt nicht mehr, denn dafür, denn du besuchst mich jetzt jeden Tag. Manchmal bringst du auch Kuchen mit, den backst du nur für mich. Mit Zuckerkruste auf dem Apfelkuchen, die hab ich am liebsten. Du lässt mich die Zuckerkruste ganz alleine essen. Die dicke Zuckerkruste, und ich grins dich immer an dabei. Manchmal denke ich so doll an dich, dann wird es ganz schlimm. Dann wird es ganz warm in meiner Hose, und ich lege mich dann immer schnell aufs Bett, auf den Bauch, denn er will dann immer rauskommen. Ich rutsche dann immer nach vorn und zurück, denn dann geht es weg. Manchmal rutscht auch die ganze Hose runter. Mein Gesicht presse ich dann immer ins Kissen. Ich will doch nur, dass es aufhört, und dann hört es auch schnell auf. Meine Unterhose ist dann ganz nass, und ich stopfe sie ganz unten in den Papierkorb, der ist meistens leer und deswegen lege ich noch ganz viel Schreibpapier drauf und drücke es ganz fest, ich will nicht, dass die jemand sieht. Ich bin so froh, dass du nicht die Laken wechselst. Wir müssen eine neue Unterhose kaufen, sag ich dann immer. Eine ist kaputtgegangen, sag ich dann immer. Und du guckst mich dabei ganz komisch an. Jetzt muss ich ganz dringend auf Toilette, aber der Zug fährt, ich kann nicht gehen, wenn der Zug fährt. Dahinten auf dem Bildschirm steht immer, wann wir am nächsten Bahnhof sind, da macht er Halt, dann kann ich schnell zur Toilette, noch acht Minuten, noch so lang, bis Krumerdorf. Gehe ich doch jetzt schon? Da vorn ist die Toilette, ich kann sie sehen durch die Tür, aber ich stolpere immer, wenn der Zug noch fährt, ich will nicht, dass man über mich lacht. Ich muss so nötig, ich muss durchhalten. Ich zähl jetzt die Bäume da draußen, du sagst immer ich soll zählen, ganz langsam wenn ich unruhig werde und wenn ich nichts zum zählen finde, dann soll ich meine Augen schließen und einfach so zählen. Aber ich hab was gefunden, ich zähl die Bäume, und denk an dich, dreiunddreißig habe ich schon, aber da sind manchmal so viele dort draußen, ich hab mich bestimmt verzählt, plötzlich muss ich ganz furchtbar. Ich krampf meine Beine zusammen, ich schaue auf den Bildschirm, nur noch zwei Minuten, ich will nicht hinfallen, ich schaffe das. Ich darf nur den Stoffbeutel nicht vergessen, der Zug wird langsamer, wird langsamer, der Zug hält an, ich spring auf, den Stoffbeutel nicht vergessen. Mein Stoffbeutel, ich darf meinen Stoffbeutel nicht vergessen. Ich hab ihn nicht vergessen. Die Toilettentür steht offen, es ist keiner drauf, so ein Glück! Ich quetsch mich durch den Spalt, schnell zu. Das mit dem blöden Hebel ist immer so schwer, aber er macht gleich klick, ich bin so froh, ich habs geschafft. Bin fertig, hab gespült, der Zug fährt, der Zug fährt wieder! Oh nein, was mach ich nu? Ich kann doch nicht dorthin, ich muss hier drin bleiben, ich bleib einfach sitzen, es ist nicht schlimm. Ich sitz hier schon ganz lange drin, der Zug fährt immer weiter, es klopft, jemand klopft an der Tür und fragt was. Eine Frau fragt, sind Sie noch lange da drin? Meine Tochter muss so dringend auf die Toilette. Oh nein, der Zug fährt doch noch, und nu, und nu? Die arme Tochter. Ich sage nichts. Ich schließe fest die Augen und wünsche mir der Zug hält gleich, bitte, bitte. Der Zug fährt immer weiter, ich wünsche es mir noch stärker, ich wünsche mir, ich wünsche mir. Der Zug fährt und fährt. Und wird ein bisschen langsamer, die Durchsage sagt nächster Halt, irgendwas, ich bin so froh, ich versuch schon mal aufzustehen, damit die Frau mit ihre Tochter nicht so lange warten muss. Aber ich schaffs nicht, kann mich nicht halten, ich muss warten bis der Zug anhält. Ich springe auf, schnell die Hose hoch und noch Hände waschen! Ich drück an das Bild mit dem Wasser, drück auf dem Bild herum. Kein Wasser, wieso kommt kein Wasser? Ich drück nochmal und rubbel dran, aber es kommt kein Wasser aus dem Hahn. Ich mach jetzt die Tür auf, versuch den Hebel aufzudrehen, aber er dreht nicht, die Tür geht nicht auf, ich dreh und dreh, er klemmt, vielleicht andersrum? Da gehts, geht auf, die Tür reiß ich auf. Da steht ein Mädchen ganz rot im Gesicht, nicht weinen, der Zug fährt noch nicht, ich muss schnell zum Platz. Mein Stoffbeutel! Mein Stoffbeutel, ich hab ihn ja um Hals. Mein Abteil ist gleich das hinter der Toilette, ich habs mir gemerkt, die Tür klemmt jetzt, ich rüttele an der Tür, aber sie geht nicht auf, ich rüttele noch mehr und sie geht endlich auf, es guckt aber keiner, es hat wohl keiner gemerkt. Als ich wiederkomme, an meinen Platz komme, sitzt da ein Typ auf meinem Platz, der hat ihn mir weggenommen, wo soll ich jetzt sitzen? Auf der anderen Seite ist noch Platz, da sitzt der mit den Kopfhörern. Der Zug ruckelt wie im Karussell, ich mache die Augen auf und schaue auf den Bildschirm. Aber da steht Kehlorth nicht mehr, da steht nur noch Flethen und Gremow und ich weiß, ich fahre nicht bis Flethen und Gremow. Meine Augen werden ganz heiß und nass. Ich habe zu lange geschlafen. Und nu, und nu? Ich schaue auf den mit den Kopfhörern vor mir, aber der sitzt da nicht mehr. Das ganze Abteil ist jetzt fast leer, und der meinen Platz weggenommen hat, guckt mich nicht an. Aussteigen? Im Notfall muss man die Notbremse ziehen, ist das jetzt ein Notfall? Sie sagen, man darf das nur im Notfall machen. Nicht weinen, ich darf nicht weinen, ich steige die nächste Haltestelle aus und fahre dann zurück, das geht, das haben sie mir auch gesagt, sie sagen, wenn ich nicht weiterweiß soll ich einen Polizisten fragen, nur noch 5, 4, 3 Minuten steht auf dem Bildschirm, nur nicht heulen und nicht den Stoffbeutel vergessen. Ich habe den Stoffbeutel nicht vergessen, ich schaue nach rechts und links und überall hin. Der Bahnhof ist ganz leer, ich sehe auch keinen Polizisten. Ich schaue nochmal überall hin, drehe mich im Kreis. Meine Augen werden schon wieder ganz heiß und nass. Und nu, und nu?